Meine Erinnerungen aus der Vergangenheit prägen meine Gegenwart und Zukunft. Jede Erinnerung hat einen Sinn, auch dann, wenn sie dazu beiträgt, die Wunden zu heilen. Schön ist, wenn Erinnerungen positiv sind. Wie ein Sprichwort es zusammenfast: Glück ist die Summe aller schönen Erinnerungen. So eine Erfahrung machte ich in den letzten Tagen, als ich zufällig einen Artikel über Astrid Lindgren zu ihrem zwanzigsten Todestag in einer Zeitschrift in die Hand bekam. Plötzlich wurden viele Kindheitserinnerungen in mir an ihre Bücher und die Protogonisten, die von Freiheit und Erlösung erzählten, wach. Da standen beide Brüder Löwenherz, Jonathan und Kalle, vor Augen, die viele Abenteuer in solidarischer Geschwisterlichkeit bestanden. Da wurde der Frühlingsschrei der Ronja Räubertochter in meinen Ohren wach, mit dem sie den Frühling ankündigte. Einfach herzerwärmende Erinnerungen. Nach Augustinus, dem abendländischen Kirchenvater, ist Erinnerung jedoch nicht nur Wiederabrufen des in der Vergangenheit Gelernten und Wahrgenommenen, sondern Begegnung mit dem in der Seele verborgenen Ort, an dem Gotteserfahrung geschieht.
Sowohl im Alten wie im Neuen Testament hat erinnern eine zentrale Stellung. Der Glaube Israels lebt vom Gedächtnis der Heilstaten Gottes. Die Erinnerung daran, was Gott an dem Volk getan hat, ist ein zentrales und notwendiges Element des Glaubens. Jesus knüpft an die große Gedächtnisfeier des Paschafestes an. Dabei stellt er das Gedenken seines Leidens und seiner Auferstehung in den Mittelpunkt der Glaubenspraxis (vgl. Reinhard Körner: Gedächtnis: Praktisches Lexikon der Spiritualität. Herder 1992, Sp. 454f) Im Erinnern geschieht die Gottesbegegnung.
Eine wichtige Erfahrung des Erinnerns machen wir Schwestern dieses Jahr, indem wir des 95. Todestages unseres Ordensgründers, des Seligen Georg Matulaitis, gedenken. Eigentlich erinnern wir uns täglich seiner Gestalt. Denn die eigenen Wurzeln als Kommunität zu bedenken, die in der Gründergestalt den Anfang bekamen, stärkt unsere Identität und den Sendungsauftrag. Jedoch setzt sein Jubiläum auf unserem Vorbereitungsweg zum 100-jährigen Bestehen der Kongregation im kommenden Jahr stärkere Akzente. Seine Biographie erinnert uns daran, dass eine feste Beziehung zu Jesus Christus das Leben richtig in Fahrt bring.
Georg Matulaitis wurde als das jüngste unter den acht Kindern in einer Bauernfamilie in Litauen, im Dorf Lugine in der Nähe der Stadt Marijampolė geboren. Mit zehn Jahren wurde er Vollwaise und erkrankte schwer an der Knochentuberkulose, an der er sein ganzes Leben gelitten hat. Dank seiner lebendigen Beziehung zu Gott und der wohlwollenden Menschen bekam sein Leben neuen Schwung. Als Priester und Bischof von Vilnius wirkte er in vielen Ländern: Litauen, Polen, Russland, Schweiz, Amerika und Rom. Ihn zeichnete seine leidenschaftliche Liebe zur Kirche, der Braut Christi aus. Sein Engagement galt den Menschen, Kindern und Erwachsenen, die aufgrund der finanziellen Nöte an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Gerade in einer Zeit, in der der Kirche durch Krisen die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird, gehört Seliger Georg Matulaitis zu den Menschen, die den Glauben durch ihr Lebenszeugnis aufbauen. Das Erinnern an die Heiligen, wie Georg Matulaitis, ist eine verborgene Kraftquelle der Seele.
Sr. Margareta Fischer, veröffentlicht in der Frankenpost 24.02.2022